Ich verschreib dir ein Symptom

Wenn Klienten sich in der Opferhaltung einrichten oder gern schwarzsehen, hilft es humorvoll zu übertreiben.

Betrachten wir persönliche Herausforderungen mit einer Portion Humor, können wir ein wenig beiseitetreten und uns selbst, etwa in einer schwierigen Situation, von außen anschauen. Das hilft z. B. in einer „kultivierten Opferhaltung“, wie ich das gerne nenne. In einer solchen Haltung machen wir uns selbst handlungsunfähig, meinen die Ansprüche der anderen bedienen zu müssen oder Opfer der äußeren Umstände zu sein. Dies zeigt sich im „stillen Leiden“ oder Jammern und Klagen des Klienten. Bei Klienten mit dieser Opferhaltung stoßen wir als Coach häufig auf Widerstände. Ich merke dann, wie der Klient sich mit seinem Verhalten und seiner Denkweise selbst schädigt, erreiche ihn jedoch nicht mit meinem Verständnis und Mitgefühl. Im Gegenteil, diese Haltung verstärkt das Muster des Klienten. Hier helfen zum Beispiel Übertreibungen oder auch paradoxe Verschreibungen. Sie erlauben einen Perspektivwechsel und damit einen veränderten Blick auf sich und andere. Mit Humor und Witz können wir uns schnell auf eine konstruktive Ebene bewegen und viele Coachingstunden sparen, die nicht wirklich weiterführen.

Stilles Leiden

Martina kommt in meine Praxis, weil sie abnehmen möchte. Im zweiten Coachinggespräch stellt sich heraus, dass sie sich in einer unbefriedigenden beruflichen Situation befindet. Sie arbeitet im sozialen Bereich und wurde vor Kurzem auf eine ungeliebte Stelle versetzt. Sie war dort schon einmal tätig und wollte auf keinen Fall dorthin zurück. Sie berichtet von Familien, deren Müll sie bei ihren Besuchen zu entsorgen hat. Ihr Sohn sage zu ihr: „Mama, du stinkst so, wenn du von der Arbeit kommst.“ Sie fühlt sich sichtlich unwohl mit der Veränderung und will diese Tätigkeit nicht mehr machen, das habe sie lang genug gemacht! Außerdem würde sie Unmengen süße Teilchen in sich hineinstopfen und zu viel Cola trinken. Sie wundert sich über das eigene Essverhalten, das sie eigentlich schon lange abgelegt habe. Sie hatte sich ja auch schon eine bessere Stelle erarbeitet und sich im Gesundheitsbereich ausbilden lassen. Schon lange träumt sie davon, eine Selbstständigkeit aufzubauen.
Ich kenne die Klientin schon ein wenig und weiß, dass sie eine kompetente Frau ist. Ich wundere mich, dass sie keinen Schlussstrich setzt, sich keine neue Stelle sucht, dass sie diese unwürdige Situation nicht als Gelegenheit nutzt, zu gehen und sich selbstständig zu machen, wie sie es ja vorhat. Sie leidet im Stillen an der Versetzung und ist wütend auf ihre Chefin. Gleichzeitig fühlt sie sich als Opfer der Umstände und glaubt, durchhalten zu müssen. Sie versucht mit einer Situation klarzukommen, die überhaupt nicht mehr zu ihr passt. Ich überlege also, wie ich ihr das Absurde dieser Situation klarmachen kann, indem ich die Schraube noch ein bisschen weiterdrehe.
Ich gebe ein paar verrückte Anregungen, um ihr einen Spiegel vorzuhalten, der ihre unwürdige Situation noch etwas karikiert. Als Erstes rate ich ihr, weiterhin den Müll der anderen wegzuräumen, sich stets mit Cola und süßen Teilchen zu bevorraten, damit sie fit bleibe. Und falls dieser Job mal nicht mehr ist, könne sie immer noch zur Müllabfuhr wechseln. Wäre doch nett, wenn hinten auf dem Müllauto mal eine Frau stünde. Sie beginnt lauthals zu lachen und meint, da wäre wenigstens die Luft frisch und nicht so verqualmt und stickig wie in den Sozialwohnungen. Vielleicht verliert sie beim Verschieben der Mülltonnen auch ein paar Kilos, witzeln wir weiter. Währenddessen spricht sie halblaut über erste Lösungsansätze. „Ja, ich muss dringend kündigen.“ Ihr Mann habe kürzlich durchgerechnet, ob es finanziell überhaupt sinnvoll sei, dass sie arbeiten gehe.

Den Widerstand herauskitzeln

„Genau“, übertreibe ich weiter, „wozu Geld dafür verlangen, um den Dreck der anderen wegzuräumen? Das ist doch eine sinnvolle ehrenamtliche Aufgabe! Du bist einfach dafür gemacht, den Müll der anderen zu entsorgen, was sollst du denn sonst machen?“ Das Ehrenamt fällt mir ein, da die Klientin sich neben ihrer Stelle noch freiwillig im sozialen Bereich engagiert. Mehr Übertreibungen und liebevolle Provokationen sind dann nicht mehr nötig. Der Widerstand der Klientin ist erwacht und treibt sie deutlich an! Martina plant ihre Kündigung. Ihr nächster Schritt ist ein Termin bei der Steuerberaterin, die sie um eine Kalkulation bitten wird, damit sie endlich ihre Selbstständigkeit angehen kann. Cola und süße Teilchen brauche sie dann endlich auch nicht mehr, meint sie abschließend.

Was kann im schlimmsten Fall passieren? Der Klient darf den Teufel an die Wand malen.

Das nächste Mal kommt sie tatsächlich mit ein paar Pfunden weniger zum Coaching. Nach den ersten Schritten in Richtung Kündigung und Selbstständigkeit rutschen die Kilos wie von selbst von den Hüften. Der Weg ist jetzt eingeschlagen. Nun kann sie sich um eine gesunde Ernährung kümmern und dies auch in GesundheitsSeminaren weitergeben.

Symptomverschreibung

In anderen Fällen hilft eine Symptomverschreibung, um dem eigenen Verhalten auf die Spur zu kommen. Vorerst lade ich den Klienten zu einem Experiment ein. Ich bitte ihn, mir zu berichten, was im schlimmsten Fall passieren kann, um Humor in den Ernst der Sache zu bringen. Damit gebe ich dem Klienten den Raum, seine Ängste zu thematisieren, indem er den Teufel an die Wand malt und dabei ruhig ein bisschen übertreibt. Auch Verschlimmerungsfragen können hilfreich sein: „Was müssten Sie tun, um Ihr Problem zu behalten, zu verewigen, sozusagen in Stein zu meißeln?“ Auf diese Weise kommen wir automatisch auf die komische Ebene, es gibt einiges zu lachen. Der Klient erkennt, welche Wirkung sein Handeln hat. In einer Fortbildung zum Thema „Status und Humor“ habe ich einmal den klugen Satz gehört: „Humor bedeutet Empathie-Ersparnis“. Das heißt, wenn wir zusammen lachen können, sparen wir uns ein „Zuviel an Mitgefühl“.
Da ich auch als Sehtrainerin arbeite, kommen viele Menschen zu mir, die Angst davor haben, dass sich ihre Sicht immer mehr verschlechtert. Matthias zum Beispiel ist besorgt um sein Sehvermögen. Er zählt eine Menge Augenbeschwerden auf: müde, trockene und juckende Augen, verschwommenes Sehen u. a. Er befürchtet, wenn es weiter so abwärts geht mit seiner Sehkraft, würde er bald blind sein wie ein Maulwurf. „Oh je, wie müsstest du dich dann wohl verhalten, damit du dich am Ende eines Tages wie ein blinder Maulwurf fühlst? Wie müsste deine Arbeitshaltung sein, was müsstest du tun und denken?“
Matthias fallen viele Dinge ein: den ganzen Tag sitzen, die Schultern hochziehen, den Rücken krümmen und vor sich hinstarren, am besten viele Sorgen um alles Mögliche machen, auch um solche Dinge, die gut laufen. Zu dieser Aufzählung biete ich ihm eine Symptomverschreibung an: Es wäre doch gut, sich nach dem Aufstehen gleich wieder hinzusetzen und ab da bis zum Abend nicht zu bewegen und die Augen immer schön starr auf einen Punkt zu richten, nicht atmen, Schultern schön hoch und kurz vor der Erstarrung vor dem geistigen Auge sorgenvolle Zukunftsbilder ablaufen zu lassen – „bis die Sicht verschwimmt, sodass du gar nichts mehr siehst, dann könnte das mit dem blinden Maulwurf bald klappen.“
Matthias lacht und schüttelt sich dann: „Uah, nein schrecklich!“ und schon sprudeln Ideen, wie er Körper und Augen lockern kann. Er könnte seine statische Sitzhaltung am Arbeitsplatz immer wieder mit Pausen, Entspannung und Bewegung auflockern. Wir stellen für ihn ein kleines Bewegungsprogramm für Schulter, Nacken und Augen zusammen.
Er freut sich von nun an, so in den Tag zu starten und seine Arbeit regelmäßig mit einem Musikstück und Bewegung zu unterbrechen. Als er einige Zeit später wieder in meine Praxis kommt, berichtet er erfreut, dass seine Sehkraft sich verbessert hat und seine Augenbeschwerden verschwunden seien. Auch sei sein Alltag wieder lebendig geworden und er fühle sich froh, munter und beschwingt wie lange nicht mehr.

Quelle: Praxis Kommunikation Ausgabe 2, April-Mai 2019

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